Das Haugtussa Kollektiv besteht seit Frühjahr 2020 und hat sich durch die gemeinsame Faszination für einen Meilenstein der norwegischen Literatur formiert.
In Entstehung ist ein Theaterstück um das Gedichtepos Haugtussa des norwegischen Schriftstellers Arne Garborg, dessen Werk aus übersetzungstechnischen Gründen bisher ausserhalb Norwegens wenig bekannt ist.
Es ist eine große Herausforderung, die Geschichte in 71 Gedichten behutsam und mit dem richtigen Gespür für Sprache, Rhythmus, authentische Bilder und Zeitkolorit ins Deutsche zu übertragen. Martje Vande Ginste und Juliane Hollerbach widmen sich dieser Aufgabe seit vielen Monaten. Diese Übertragung dient als Basis für die Dramatisierung, Adaptierung und Aktualisierung der Geschichte für das Theaterstück.
Das Buch Haugtussa ist von unschätzbarer Bedeutung, nicht nur als Geschichte einer jugendlichen Initiation und Traumabewältigung, sondern auch als Spurensuche der uralten europäischen Kultur. Diese ist hierzulande fast verloren gegangen, resoniert jedoch stark und öffnet Bereiche in uns, die uns wieder mit uns selbst und unserer ursprünglichen Lebens- und Herzenswelt verbinden.
Das Stück soll explizit auch Jugendliche ansprechen, die sich mit den herausfordernden und bewegenden Erfahrungen, die die Hauptfigur macht, und mit ihrem Mut und Humor direkt identifizieren können.
Die tiefberührende Coming-of-age-Geschichte in 71 Gedichten über die junge Hirtin Veslemøy, die von den Dorfbewohner:innen aufgrund ihrer Hellsichtigkeit und ihrer besonderen Fähigkeiten Haugtussa (in etwa Hügeltroll) genannt wird, ist bisher, wie schon erwähnt, über Norwegen hinaus wenig bekannt. Lediglich 8 Gedichte aus dem Buch wurden international berühmt, da sie von Edvard Grieg kongenial vertont und in den Liedzyklus Haugtussa Opus 67 aufgenommen wurden.
Die 1895 entstandene Erzählung nimmt einen besonderen Platz in der norwegischen Literaturgeschichte ein und spielt auch eine wichtige Rolle für die norwegische Identität. Das Buch ist mangels adäquater Übersetzungen kaum über die norwegischen Landesgrenzen bekanntgeworden. Dabei ist es ein sehr berührendes Werk, das bis zum heutigen Tag in Skandinavien viele Künstler:innen aller Sparten inspiriert. Es gibt Theaterstücke, Kompositionen, Bilder, Wandtapeten, Tanzproduktionen und vieles mehr; überdies sind einige Gedichte aus dem Buch allgemein bekannte Volkslieder geworden.
Da die Sprache Garborgs, der selbst ein hervorragender Musiker war, sehr rhythmisch und musikalisch ist, ist es selbstredend, dass wir uns ihm im Dienste des theatralischen Ausdrucks ebenfalls mit musikalischen, perkussiven und tänzerischen Mitteln nähern.
Der Freigeist Arne Garborg, ließ sich in keine Schublade stecken, weder literarisch noch inhaltlich, und dieser Haltung haben wir versucht, Rechnung zu tragen. Wie Arne Garborg selbst, haben auch wir uns bei der Übertragung der Gedichte sämtlicher literarischer und musikalischer Stilmittel, vom Mittelalter bis hin zu eigenen sprachlichen Neuschöpfungen, bedient.
Mit seinen gleitenden Erzählperspektiven ist das Buch sowohl eine Verarbeitung des Freitods von Garborgs Vater, ein Bildungsroman, ein ´Dante´scher‘ Höllenritt, ein Panoptikum der norwegischen Mythologie und Literaturgeschichte und eine tragische Liebesgeschichte. Zentral steht die verletzliche und dennoch starke junge Heldin Veslemøy inmitten eines Settings, wie man es aus Herr der Ringe, Harry Potter, Game of Thrones und anderen kennt. Außerdem ist das Buch eine Liebeserklärung an die Bewohner und auf die Landschaft von Jæren in Südwestnorwegen, die einen großen Einfluss auf den Geist und die Seele der Protagonistin ausübt und wie eine Lupe auf ihre Gefühlswelt wirkt. Sie beeinflusst die Psyche der Hauptperson massgeblich und fungiert u.a. als Metapher für ihre seelische Entwicklung.
Merkmale dieser Landschaft sind die hagelweißen Strände und die Äcker voller Steine, die bei jedem Pfluggang wieder tausendfach aus der Tiefe hochkommen und die Landwirte seit eh und je in den Wahnsinn treiben. Prägend sind auch die Feldumrandungen, die mit diesen Steinen als Trockenmauern gebaut werden, um den Sand und den Wind von den Äckern wegzuhalten. Große Schaf- und Rinderherden grasen da. Mächtige Trollsteine liegen ringsumher verloren in der Gegend, wie von Riesen herumgeworfen. Die baumlose, felsige und neblige Berglandschaft gibt einem das Gefühl, sich einsam in großer Höhe zu befinden. Aber dann stellt man fest, dass man gar nicht so hoch unterwegs ist und in der Ferne das Meer sehen kann. Der weite, hohe Himmel wird von riesigen Wolkengebilden geschmückt, im Buch ‚Elfenheime’ genannt. Die karge Landschaft bietet der Hauptfigur in deren großer Verletzlichkeit kaum Schutz, so als ob sie immer von allen und allem gesehen werden kann und der Himmel sie erdrücken wird. Im Moor, das die Graslandschaft unvermittelt durchzieht, sucht sie nach Halt für ihre Füße.
Die norwegische Fotografin Kristin Døvle hat diese Stimmung in ihrem preisgekrönten Buch Haugtussa-Jærlandskap eingefangen. Ihre Landschaftsbilder werden Inspirationsquelle für das Bühnenbild und die Videoprojektionen des isländischen Filmemachers Rafnar orri Gunnarsson sein.
Die Wirkung der Landschaft, die Arne Garborg, der dort aufwuchs und als Jugendlicher selbst Hirte war, so stark geprägt hat, wird durch den Klangteppich, die kurzen Improvisationen und musikalischen Zitate erweckt werden.
All dies wird die Basis für das Theaterstück sein. Somit wird eine Verbindung zwischen Norwegen und Mitteleuropa geschaffen, die uns gleichermassen an unsere individuellen wie unsere kollektiven Wurzeln bringen kann.
Sommerregen, warmer Regen
tropft aus sanftem Schleier-Himmel,
besänftigt selig die sengende Luft,
befeuchtet lind den spröden Boden.
Tropft und rieselt gut und lange;
tränkt die Erde, sättigt den Frühling;
endet nach getaner Arbeit
mild und ruhig gegen Abend.
Und es öffnen sich und atmen
Blüte, Blatt und alles Leben,
Gras, Gestrüpp und frische Heide,
Gagelstrauch und welkes Dreiblatt.
Alles öffnet sich und atmet
und verströmt die warme Seele
weit in abertausend Düften,
tausend frischen, feinen Düften, –
die die Luft wie Balsam füllen.
Und ihr klarer Schleier hüllt sich
um die Erde, der gewebt ist
ganz aus Leben, Wärme, Liebe
wie der leichte Seidenschleier
um die runde, weiche Brautbrust.
Veslemøy treibt ihre Herde
still inmitten runder Hügel
nördlich um den schwarzen Bergsee.
Dessen Ufer sind umwuchert
dicht mit dunklem Moos und Flechten.
Wollgras wächst und Beerenwurzeln;
steil, gefährlich ist die Böschung,
denn da unten auf dem schwarzen,
tiefen, saugenden Morastgrund,
schläft ein langer, dicker Lindwurm.
Doch am Berg die Tiere grasen,
knabbern junge Heidetriebe;
Lämmchen tanzen rings im Kreise,
saugen Milch bei ihren Müttern.
Und der reine Sommerabend
legt sich sanft auf alle Matten,
und der helle warme Abend
alles hüllt in Dunst und Dämmrung –
bis das Strickzeug ihr entgleitet,
Veslemøy schweift selbstvergessen,
in gedankenlosem Denken,
schauend, träumend, ganz versunken;
sieht das Leben in der Landschaft,
sieht das Wache zwischen Steinen,
sieht auf wunderschönen Matten
eine Wunderherde grasen.
Sieht die blauberockte Huldre,
feinen Silberschmuck am Busen,
dort am Fuß des Hanges sitzen,
Salz für ihre Kühe streuen.
Sie erhebt sich, lockt die Tiere,
und ihr Haar umwallt die Schultern;
Sieh, die Herde kommt, umkreist sie,
und der Zug trabt Richtung Berge.
Kuh um Kuh und hintan trottet
groß der alte Bulle Dimmeld.
´S scheint wie eine Reihe Schatten
vor dem hellen Abendhimmel.
*
Ausgelöscht das Licht des Tages;
grau verblassen alle Wolken.
Die Welt liegt da in Traum und Klängen,
und ein Lied tönt in den Abend:
*
Lang genug warn ihr und ich
drin im dunklen Stalle;
zu der Alpe ziehn wir nun,
unterm Skareberge.
Kommt nur, kommt nur, Kühe mein!
Kühl ist es am Skare-Hang.
Kuh-Såta
Kuh-Såta
Grün wächst am Hang das Futter.
Kommt Kühe!
Kommt Tiere!
Kommt Dimmeld und Dros
und Randeliros
zur Nacht!
Unter Nordan-ås ist’s gut,
drin im Huldre-Garten.
Lang ist dort die bergende Nacht,
kurz die lichthellen Tage.
Und in den Bergen frisch und kalt
gibt’s Schutz vor Übel und Gewalt.
Wenn um Ås die Nebel steigen,
jeden Sonnenstrahl verjagen,
ziehen wir nach Belieben umher
und wir haben gute Tage.
Wolken und Nebel überm Hang, –
da ist der Huldre niemals bang.
Oft singt da zur kühlen Nacht
der Riese mir ein Ständchen,
verspricht mir seinen ganzen Berg,
wenn ich ihm reich mein Händchen.
Doch niemals froh ich werden kann,
mit diesem Riesen-Troll als Mann.
Die Huldre geht in Liebesschmerz,
muss in Sehnsucht brennen
für den Mann des hellen Tags,
den sie nie wird kennen.
Gerne gäb ich Seel und Leib,
um zu sein sein treues Weib.
Die Sonne steigt, die Sonne sinkt;
der Winter kommt und endet;
ohne Brautbett, ohne Freund
ziellos streift die Huldre.
Bitter brennt der Liebesschmerz,
kein heller Mann gewinnt ihr Herz.
Kuh- Såta!
Kuh- Såta!
Grün wächst am Hang das Futter.
Kommt Kühe!
Kommt Tiere!
Kommt, zieht mit mir
auf dem ziellosen Weg
zur Nacht!
aus: HAUGTUSSA von Arne Garborg
Übertragen von
Martje Vande Ginste und
Juliane Hollerbach